Rezensionen
 
  Rainer Höfelschweiger
Albert Ellis und die Religion
Poimenische Perspektiven der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie

Books on Demand: Norderstedt, 2015
340 S.

  Der Autor, Dr. theol. habil. Höfelschweiger, ist Pfarrer der bayrischen Landeskirche und Lehrbeauftragter für Praktische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Das Buch ist seine praktisch-theologische Habilitationsschrift, die er in diesem Jahr unter Fachmentorat und Begutachtung der ProfessorInnen Klaus Raschzok, Dieter Becker, Barbara Städtler-Mach und Ralph Kunz vollendete. Sie trägt ursprünglich den Titel „Albert Ellis und die Religion. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie und ihrer Rezeption in der therapeutisch orientierten Poimenik“. Die Zeit war reif für diese Arbeit. In Mitteleuropa hat die Rezeption Kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) in die wissenschaftlich Poimenik bis dato noch so gut wie überhaupt nicht stattgefunden. Höfelschweiger stellt im ersten Teil seiner Arbeit ausführlich dar, welche Widerstände dafür verantwortlich sind und wie sich erst im letzten Jahrzehnt ein teilweise wohlwollendes, wenn auch insgesamt immer noch sehr vorsichtiges und von Vorbehalten geprägtes Interesse in der akademischen Pastoraltheologie für KVT herangebildet hat, fernab jedoch von ernsthafter Auseinandersetzung oder gar Integration, obwohl keine andere Richtung der Psychotherapie in so hohem Maß Formen der Aufnahme spiritueller und religiöser Inhalte zur zielgruppenorientierten Spezifizierung der Therapie entwickelt und empirisch überprüft hat (vgl. Willberg, 2015a), obwohl KVT vielerorts und auf vielfältige Weise in die real praktizierte Seelsorge und christliche Lebensberatung eingegangen ist (vgl. Willberg, 2015b), obwohl leicht zu erkennen ist, wie hoch Grundprinzipien der KVT mit Grundprinzipien biblischer Ethik übereinstimmen (vgl. exemplarisch Pecheur, 1978) und obwohl die Kirchengeschichte durchaus nicht ohne einladende Beispiele kognitiver Ansätze geblieben ist (vgl. z.B. Trader, 2011). Höfelschweiger deckt schonungslos, aber frei von Polemik und stets um sachliche Differenzierung bemüht, anhand einiger maßgeblicher Seelsorgeliteratur die Chronologie der Abgrenzung gegen die KVT in den letzten Jahrzehnten auf. Bezeichnenderweise fanden sich die über lange Zeit hinweg einzigen akademischen Ansätze zur Aufnahme der KVT bei evangelikalen Autoren (Dieterich, 2001; Jäger, 1997; Sons, 1995). Bemerkenswert an dieser Arbeit ist nicht nur, dass sie sich überhaupt als erste ihrer Art im deutschen Sprachraum in umfassender Weise auf das Verhältnis von KVT und Seelsorge einlässt, sondern dass sie mit Albert Ellis auch auf den Protagonisten der KVT fokussiert, dem in dieser Hinsicht die größte historische Bedeutung zukommt (vgl. Willberg 2015c) und dessen Methodik der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) besonders gut für die Anwendung im seelsorgerischen Kontext geeignet ist. Im Hauptteil des Buches wird die REVT in ihren Grundzügen dargestellt, Ellis’ Verhältnis zu Religion und Spiritualität in seinem Werdegang gründlich beschrieben und diskutiert und sein möglicher Beitrag für die Theorie der Seelsorge ausgelotet. Dazu dient auch die vergleichende Betrachtung des Originals der REVT mit seiner fundamentalistischen Adaption durch den Evangelikalen Lawrence Crabb. Daran wird ersichtlich, worin die tatsächlichen Gefahren seelsorgerlicher Anwendung direktiv vermittelter REVT liegen. Höfelschweiger kommt zu dem paradoxen, aber deswegen keineswegs falschen Schluss, dass Konzeption und Praxis des frühen Ellis in mancher Hinsicht dem Seelsorgemodell Crabbs ziemlich ähnlich waren, insofern der zunächst militante Religionskritiker Ellis von dogmatischen weltanschaulichen Normierungen ausging, die jedweden persönlichen Gottesglauben der Klienten unbesehen als heilungsbedürftige Selbstschädigung erscheinen ließen, spiegelbildlich zu Crabbs Postulat, Bedingung aller seelischen Heilung sei die Übernahme des christlichen Credos. In der Tat ist die Ambivalenz zwischen der von jeher ausgeprägten humanistischen Maxime der Selbstbestimmung und der Vorstellung davon, wie sie einem Klienten beizubringen sei, beim frühen Ellis deutlich. Höfelschweiger versäumt es aber nicht, gesichert durch eine gründliche Verarbeitung der zur Verfügung stehenden Quellen, den Prozess der Wandlung in Ellis’ Denken über die Religion nachzuzeichnen, der in seinen späten Jahren zu ausgesprochen konstruktiven Statements über die mögliche gesundheitsfördernde Funktion von Religion und Spiritualität führte und ihn nicht zuletzt dazu veranlasste, mit dem Mormonen Nielsen und dem Evangelikalen Johnson zusammen ein beachtliches Handbuch zur Anwendung der REVT in der Therapie mit Menschen zu schreiben, für die Religion ein besonders hoher Wert ist (Nielsen, Johnson & Ellis, 2001). Dieses Umdenken ging an der mitteleuropäischen wissenschaftlichen Poimenik offenbar weitgehend vorbei, wie auch, was noch schwerer wiegt, die geistesgeschichtliche Bewegung im Hintergrund, an der Ellis partizipierte, nämlich die sogenannte „Kognitive Wende“, die bereits in den 60ern begann und in den 70ern ausreifte (Sperry, 1993) . Sie nahm bekanntlich entscheidenden Einfluss auf die Verhaltenstherapie, wodurch diese zur Kognitiven Verhaltenstherapie mutierte. Durch die Kognitive Wende wurde die bald folgende spirituelle Öffnung der (K)VT überhaupt erst möglich. Symptomatisch für das Wahrnehmungsdefizit in dieser Hinsicht ist eine von Höfelschweiger vorgestellte Dissertation aus dem Jahr 2007 mit dem Titel „Seelsorge und Verhaltenstherapie: Über Grenzen und Möglichkeiten“ (Berndt, 2007) , in der überraschend deutlich wird, dass der aus psychoanalytischer Perspektive schreibende Autor die tatsächlichen kognitionspsychologischen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Verhaltenstherapie offenbar nicht zur Kenntnis genommen hat; ein Manko, das Besier (Besier, 1980), wie Höfelschweiger ebenfalls aufzeigt, bereits vor 35 Jahren der deutschen Pastoralpsychologie in toto vorgeworfen hat. Resümierend schlägt Höfelschweiger wie zu erwarten die Aufnahme Kognitiver Verhaltenstherapie nach Ellis nunmehr auch dort vor, wo Ellis selbst die besten Voraussetzungen für eine Verbindung mit religiösen Zielen und Inhalten sah, nämlich im (großkirchlichen) Kontext liberaler Theologie. Er tut dies aber nicht ohne das Bedenken, dass diese Methodik auch zur Durchsetzung dogmatischer Normen instrumentalisiert werden kann. Wenn auch die Auseinandersetzung mit selbstschädigenden „Mussforderungen“ und ihre Überwindung zugunsten bedürfnisbestimmter freier Entscheidungen das Kernstück der REVT bildet, kann doch eben diese Auseinandersetzung auch wiederum selbst zu einem zweifachen „Muss“ werden: Es muss eine Lösung geben und die betroffene Person muss sie erkennen, bejahen und verwirklichen, andernfalls ist sie kein guter Klient. Höfelschweiger beleuchtet das auch theologisch, indem er dort, wo Veränderung zur gnadenlosen moralischen Pflicht wird, „quasi-pelagianische“ Selbsterlösungsbemühungen ortet. Solche Meta-Mussforderungen sind zwar dem klassischen Behaviorismus nicht fremd, aber ein Spezifikum Kognitiver Therapie sind sie nicht, sondern schlichtweg Kunstfehler von Psychotherapie, Beratung und Seelsorge im Allgemeinen, überall dort nämlich, wo „Profis“ sich anmaßen, es besser zu wissen als ihre Klientel. Gerade Ellis war sich der Grenzen des psychisch Veränderbaren sehr wohl bewusst und dachte bescheiden über die Wirksamkeit von Psychotherapie. Darum galt ihm auch als durchgängige Voraussetzung aller therapeutischen Bemühung die Akzeptanz der Unvollkommenheit, die er immer wieder mit der fast schon stereotyp wiederholten Aussage „God hates the sin, but loves the sinner“ ganz bewusst in den Rahmen der christlichen Rechtfertigungslehre stellte (Ellis, 1988; Di Giuseppe, Robin & Dryden, 1991; Ellis, 1992; Ellis, 1994; Ellis, 2000a; Ellis, 2000b; Nielsen, Johnson & Ridley, 2000; Ellis, 2006). Wenngleich es dem Selbstverständnis der REVT-Praktiker, allen voran Ellis selbst, nahezu ein „Muss“ ist, jegliche Verstärkung von Mussforderungen im Bewusstsein der Klienten zu meiden wie der Teufel das Weihwasser, ist aber, wie Höfelschweiger zu Recht moniert, der von Ellis praktizierte direktive, konfrontierende und belehrende Gesprächsstil per se mit einer starken Tendenz behaftet, dem Gegenüber das scheinbar „Richtige“ nolens volens aufzunötigen. Als Korrektiv empfiehlt Höfelschweiger, wiederum ganz zu Recht, eine Anleihe bei der Kognitiven Therapie nach Aaron T. Beck, zu deren Grundausrüstung die sokratische Gesprächsführung gehört. Konsequent gehandhabt ist das eine Methode, die ganz darauf verzichtet, dem Gesprächspartner Fremdwahrheiten beizubringen, die ihn aber nach Kräften bei dem eigenen Bemühen unterstützt, seine eigene Wahrheit zu finden. Am besten gelingt das sokratische Gespräch auf der Basis einer konsequent personenzentrierten Grundhaltung. Das Abrücken etwa vom persönlichen Stil des Gründers der REVT, der, wie Höfelschweiger ausführt, auch viel mit dessen Biografie und Persönlichkeitsstruktur zu tun hat, ist bei Ellis’ Epigonen durchaus nichts Außergewöhnliches und war es auch schon zu seinen Lebzeiten nicht. Man wird getrost sagen dürfen, dass Ellis selbst bei aller Orignialität und wohl auch Lust zur Selbstinszenierung guruartige Attitüden fremd waren. Er hatte nichts dagegen, wenn andere manches anders sahen und machten als er - gerade das war auch die Voraussetzung für seine wachsende Aufgeschlossenheit für die religiöse Anwendung von REVT. Die REVT ist weder mit Ellis noch bei ihm stehen geblieben. Beispielhaft sei hier nur darauf verwiesen, dass Harlich Stavemann, einer der Hauptvertreter der REVT in Deutschland, dem sokratischen Gespräch einen ausgesprochen hohen Stellenwert gibt (Stavemann, 2007). Dass die REVT nicht mit Ellis identisch ist, wird in Höfelschweigers so wichtigem und wertvollem Buch eher nicht transparent. Man mag das als einen Kritikpunkt sehen. Was darüber hinaus fehlt, dem Autor aber gar nicht vorzuwerfen ist, weil es der Begrenzung seiner Themenstellung entspricht, ist der Entwurf eines Modells der Kognitiven Seelsorge, das auf sicherem epistemologischem Fundament steht und im Kontext eines weiten Spektrums theologischer Ausrichtungen zur Anwendung gebracht werden kann. Das gibt es noch nicht und das zu formen steht jetzt an. Höfelschweigers großes Verdienst ist es, dafür - als erster! - solide wissenschaftliche Voraussetzungen geschaffen zu haben.

04.09.2015, Hans-Arved Willberg
Quelle: CURA ANIMARUM (2015) 1/2



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     Datum der letzten Änderung: 29.07.2016